Über Kreaturen
Neulich sass ich im Zug neben einer schlanken, charmanten jungen Frau, die beim Einsteigen für einiges Aufsehen unter den Mitreisenden gesorgt hatte. Auch ich konnte mich eines leisen Lächelns kaum erwehren – beim Anblick von so viel Modebewusstsein. Die hautenge, mit allerlei ausladenden floralen und animalischen Motiven bestickte High-Waist-Jeans – in etwa im Stil der Frühlingskollektion von Dolce & Gabbana 2015, die seidene, karminrote Bomberjacke mit khakigrünen Samtärmeln und goldenem Reissverschluss: Beides miteinander kombiniert, setzte die weiblichen Kurven der jungen Person besonders explizit in Szene. Was diese im Übrigen keineswegs zu stören schien. Spektakulär auch das wallende, taillenlange, stark blondierte und gekonnt geföhnte Haar, die peinlich genau burgunderrot nachgezeichneten, vollen Lippen, das nach allen Regeln der (modernen) Kunst konturierte Gesicht und die knallrot lackierten, der Länge nach zu urteilen falschen und makellosen Fingernägel, die ihr beim fleissigen Tippen auf dem extragrossen Display ihres rosagold-schimmernden Handys überraschenderweise überhaupt nicht im Wege standen. All dies ergab das Bild einer modernen, extrem weiblichen und zugleich – pardon für so viel Ehrlichkeit! – etwas lächerlich aussehenden, hübschen jungen Dame. Ein reizen- des "Material Girl". Ihre mit Bienenmuster und Schmuckverschluss verzierte Gucci-Tasche liess ich bisher unerwähnt. Kein Zweifel aber, dass diese echt war. Und die Schuhe der jungen Person brauche ich wohl jetzt nicht mehr zu beschreiben. Jeder aufmerksame Leser wird sich problemlos selbst ausmalen können, wie diese wohl aussahen.
Wie gesagt: Ein diskretes Grinsen konnte ich als erste Reaktion kaum unterdrücken. Aber warum so streng? Was hatte ich dieser im Benehmen eigentlich ziemlich zurückhaltenden Kreatur denn vorzuwerfen? Die blonde, noch sehr junge Frau hatte im Grunde nichts Falsches getan – den Gesetzen der Mode nach zu urteilen. Nein, sie hatte sogar alles ganz – ganz! – richtig gemacht. Bis ins kleinste Detail hatte sie in der Tat alle in Modemagazinen und auf den Instagram-Accounts mancher It-Girls oder auf den YouTube-Videos namhafter Hohepriesterinnen der Kosmetik kolportierten Regeln des modischen Spiels eingehalten. Ergeben war sie diesen Gesetzen sogar wortwörtlich gefolgt. Mit welchem Ergebnis? Dass ich – ich bezeichne mich hier gerne mal als "Intellektuelle" – etwas herablassend über so viel modische Unterwürfigkeit urteilte. Als eine "Intellektuelle", die sich aber dennoch täglich mit der immer offenen Frage zu Bett legt, was sie am nächsten Morgen wohl anziehen soll.
Ich weiss, dass man besser beraten ist, die modischen Spielregeln und Expertenratschläge nicht allzu beflissen zu beherzigen. Aus Erfahrung auch weiss ich, dass es weiser ist – zumindest, wenn man bestrebt ist, ernst genommen zu werden – auf zu viel offensichtliche Stilpflege zu verzichten. Noch erinnere ich mich nämlich sehr wohl an meine Zeit als Studentin auf der Universität: Wehe den jungen Frauen, die sich anmassen, sich feminin zu kleiden! Dass solche auch Intelligentes hervorbringen konnten, schien Professoren – und bisweilen auch Professorinnen – immer zutiefst zu überraschen.
Natürlich will niemand hier bestreiten, wie zeit- und ernergieaufwendig (geschweige denn kostspielig) Modebewusstsein und Pflege des eigenen Erscheinungsbildes sein können. Am Wenigsten sicherlich die Nobelpreisträgerin Christiane Nüsslein-Volhard, die junge Wissenschaftlerinnen immer wieder ermahnt, nicht ständig "vorm Spiegel zu stehen". Es sind immerhin durchschnittlich rund zwei Jahre Lebenszeit, die Frauen allein der Körperpflege widmen und die nicht ins Studieren bzw. Forschen bzw. Erfinden investiert werden können. Weil ich mich also einst entschieden habe, mir ein "respektables" Plätzchen im Leben zu erkämpfen, und weil ich infolgedessen – ganz anpassungsbereit – den Habitus "seriöser" Menschen und somit deren (heuchlerische? etwas naive? revanchierende?) Skepsis dem schnöden Schein gegenüber leider teilweise übernommen habe, schaute ich jetzt etwas herablassend und gleichzeitig mitleidig auf die junge Kreatur, die mir im Zug gegenübersass. Und sich offensichtlich überhaupt nicht um mein Urteil scherte. Nein. Mein imaginäres, missbilligendes Kopfschütteln war ihre kleinste Sorge. Denn über sie urteilt eine Andere viel strenger, als ich es vermag.
In diesem Zug schaute ich mir nun diese integre und mutige Frau an. Und ich fand sie – bei aller möglichen Übertreibung – einfach unendlich rührend. Rührend wie auch diese andere Frau, gut über fünfzig, die ich die Woche zuvor in einer Modeboutique in Zürich erblickte und die vergessen zu haben schien, dass eine hüftlange Haarpracht auch bei aller natürlichen Sinnlichkeit (oder eben ihretwegen?) ab einem gewissen Alter unangebracht ist. Auch musste ich an diese ältere Dame im Kaffeehaus denken, deren überschminktes Gesicht Thomas Mann sehr wohl als fratzenhaft, als tragische Maske bezeichnet hätte, da die Make-up-Schichten das, was sie hätten verschwinden lassen sollen, noch unbarmherziger betonten (Stichwort Aschenbach im "Tod in Venedig"). Allesamt eigentlich rührende Kreaturen, die öfters mehr oder weniger geheimen Spott ernten und deren vermutlicher Jugendwahn, deren vermeintliche Oberflächlichkeit oder Geschmacklosigkeit voreilig abgetan werden.
Dabei sind diese Versuche, an sich selber zu arbeiten, sich in etwas Schöneres und Besseres zu verwandeln – mit Hilfe der Mode, der Kosmetik oder der Ornamentik jeder Form — diese Versuche, das Hässliche zu kaschieren oder im Zaum zu halten bei aller Unbeholfenheit und möglichen Übertreibung vielleicht genau das, was wir heute brauchen. Vielleicht sind sie etwas, was wir nicht nur tolerieren, sondern barmherzig, ja anerkennend, begrüssen sollten. Denn wovon sind sie der sichtbare Ausdruck, wenn nicht von einer gewissen Scheu und Unsicherheit – bei aller Grellheit und plakativen Unnatürlichkeit? Solche Erscheinungen sind höchst kulturelle Erscheinungen und zeugen von Selbstreflektion. Und Selbstzweifel. Sie sind ein Schwächebekenntnis, das greifbare Angstbekenntnis von Menschen, die unsicher sind und versuchen, ihre Makel zu überspielen, um den Anderen ein besseres Ich anzubieten. Kein Zweifel also, dass meine Nachbarin von uns allen die strengste Richterin über sich selber war.
Von einer Arte-Philosophiesendung, von Raphaël Enthoven moderiert, ist mir in Erinnerung geblieben, Schönheit sei deswegen berührend, weil wir uns ihrer Zerbrechlichkeit und Vergänglichkeit bewusst seien. Die jungen oder weniger jungen Damen, die es mit der Mode mal übertreiben, verraten durch ihre Exzesse ihre Angst vor der eigenen Hässlichkeit. Weibliche Schönheit ist nämlich eine Seltenheit – daran erinnert uns Claudine Sagaert in ihrem Essay zur Geschichte der weiblichen Hässlichkeit. Sie ist eine kulturelle Eroberung. Ein Luxus also. Umso faszinierender ist sie. Umso dankbarer sollten wir denjenigen sein, die für sie Sorge tragen und uns somit auch daran erinnern, dass Künstlichkeit nicht unbedingt verpönt sein sollte, sondern auch als eine Befreiungsgeste ausgelegt werden kann. Man setzt sich dabei über die eigenen körperlichen Grenzen hinweg, die man gleichzeitig aber, demütig als solche erkennt. Es braucht Mut, der grausamen Wahrheit ins Gesicht zu schauen. Befreiend ist es aber, ihr künstlich und modisch zu trotzen. Ein harter Weg, den nicht alle gerne gehen.
Warum denn sonst würde manche überweibliche Erscheinung so polarisieren – wie die sirenenhafte Arielle Dombasle, die vor neun Jahren, mit 49 (oder 54? Mythische Wesen sind bekanntlich alterslos), im Crazy Horse in Paris ihre Lieder in sehr freizügiger Aufmachung zum Besten gab? Manchen macht sie – ganz Meerjungfrau eben – Angst. Andere inspiriert sie. Nicht zuletzt Homosexuelle. So lässt sich auch die allgemeine Welle der nostalgischen Begeisterung erklären, die die 50er-Jahre-Serie Mad Men auslöste: "Als Männer noch Männer waren und Frauen noch Röcke trugen" so das Motto der Serie. Auch Dita von Teese freut sich darüber, dass mehr Frauen ihre Shows besuchen als Männer. Dies, weil sie eben, wo sie sich doch selbst als sehr durchschnittliche Schönheit einstuft, einen Weg vorzeichnet – den Weg der Eroberung des eigenen Sex-Appeals – den andere gerne gehen möchten. Bei aller Verletzlichkeit und scheinbaren Unterwürfigkeit trotzt das Pin-Up der eigenen Endlichkeit. Rührend ist sie allenfalls, diese künstlich-schöne, verletzlich-aufbegehrende Kreatur.
Als ich zum Aussteigen aufstand, beschenkte ich meine Reisegefährtin mit dem wärmsten, komplizenhaftesten Lächeln, das ich beherrsche. Sie lächelte zurück. Ich nehme gerne an, dass wir uns verstanden. Und als ich zu Hause ankam, trug ich akribisch knallroten Lippenstift auf. Ausnahmsweise. Schnell noch, bevor mein Mann heimkam .
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