Fashion

Im richtigen Licht betrachtet

Der Herbst bedeutet zunächst einmal eine Veränderung des Lichts. Wie wäre es, wenn die Milde des wolkengestreiften Himmels einen dazu anregen würde, den Blick auf sich selbst zu überdenken? Die Entdeckung der eigenen Schönheit gleicht einer Suche nach der eigentlichen Identität, dem Licht und den Menschen, die helfen, sich mit dieser einzigartigen Schönheit anzufreunden. Der Herbst bietet eine wunderbare Gelegenheit zur Nachsichtigkeit.

Ein Mann hat mir einmal gesagt: "Du bist so schön! Und ich meine nicht schön wie im Katalog, sondern einmalig schön." Seit dem Tag sehe ich mich nicht mehr ganz mit dem gleichen Blick. Nicht nur, weil ich mein eigenes Bild durch die wohlwollenden Augen eines anderen sehe, sondern vor allem, weil dieser Satz mir geholfen hat, mir meine eigene Schönheit zu eigen zu machen. Eine Schönheit, die nur mir gehört und jenseits des sozialen Fokus, jenseits aller Archetypen, Modelle oder Instagram-fähiger Bilder zum Vorschein kommt. Diese Schönheit liegt in nächster Nähe des Ich, mit ihrer besonderen Empfindsamkeit, einer Biografie, einer Art, zu sprechen und zu schauen, den Raum einzunehmen und dem Körper und vor allem dem Geist Sorge zu tragen. Diese Schönheit gleicht durchaus einer Odyssee auf der Suche nach sich selbst.

Ab dem Oktober verändert sich das Licht langsam. Die Tage werden kürzer, die Schritte aus dem Büro eiliger, die Strassencafés bleiben links liegen. Man ist froh darum, die Kaschmirsachen wieder auszupacken. Die Haut braucht ein klein wenig "Fassadenarbeit", wie meine Tante Irène gern zu rosigen Wangen sagte. Heute könnte ich ihr sagen, was sie wohl ohnehin wusste – dass es unzählige Wege gibt, die Wangen erröten zu lassen. 

Man muss sich nur im richtigen Licht betrachten oder betrachten lassen. 

Seinen Blick auf die Welt und sich selbst schulen. Diese Zeit der Verwandlung des Lichts und der Jahreszeiten, in der die frostigen Monate unaufhalt- sam näherrücken, bietet vielleicht die ideale Gelegenheit, sich selbst endlich mit etwas mehr Milde zu betrachten. Sich mit der Schattenseite anzufreunden, die die schwindende Sonne wirft und dadurch unsere einzigartige Schönheit enthüllt.

Eine wichtige Sache muss ich hier sagen: Ich bin die am wenigsten fotogene Person der Welt. Das ist keine falsche Be- scheidenheit. Im Moment, wo sich eine Kamera nähert, er- starre ich augenblicklich zu einem Menschen, den ich schlicht nicht wiedererkenne. Ist Bildern zu trauen? Ein Teil meines beruflichen Lebens besteht im Machen von Bildern. Ich gehöre zu den Leuten, die sich von Abbildungen faszinieren lassen: Ich konstruiere sie, analysiere sie und bin ihr bereitwilliges, freudiges Opfer. Ich gehöre zu denen, die Modebilder machen, solche, wie sie auf allen Seiten dieser Zeitschrift zu sehen sind, die Sie gerade in der Hand halten. Bilder, die an ein Moodboard gepinnt werden, den Konsum fördern und die #goals nach der Urlaubszeit befeuern.

 

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Diese Bilder liebe ich, ehrlich, ich möchte sie um nichts in der Welt missen. Sie sind Ausdruck eines Strebens. Doch sie erzählen ein anderes Leben als das eigene. Sie erzählen von leistungsfähigen Körpern, die mit sich zufrieden sind. Diese Bilder machen das Gesicht einer Epoche aus und gehören zur Konstruktion ästhetischer Normen, selbst wenn sie so tun, als zeigten sie uns eine alternative Schönheit. Denn wenn anders geartete Körper abgebildet sind, werden diese immer noch als Abweichung von einer Norm dargestellt. Diese Bilder enthüllen eindeutig auch ein ästhetisches Tabu: reale Körper, Zellulitis, Falten, Asymmetrien. Die Japaner haben ein Wort für die Unvollkommenheiten, die eine Sache oder einen Menschen einzigartig machen: Wabi-Sabi. Ein philosophisches und ästhetisches Konzept aus dem Zen-Buddhismus, dem zufolge die unvollkommenen, nicht dauerhaften oder unvollständigen Dinge die Schönheit ausmachen. Die Schön- heit des Einzigartigen, bereichert von der Patina der Jahre. Das Wabi-Sabi ist eine Verschiebung des Blicks: Es genügt, ein Objekt mit Milde zu betrachten, um dessen einmaligen Platz in der Welt zu begreifen. Wabi-Sabi bedeutet, sich die eigene Schönheit zu eigen zu machen, jenseits der ästheti- schen Standardmodelle, die die Bildermacher aufstellen. Es bedeutet, das Vergehen der Jahreszeiten zu akzeptieren, sich mit einem milderen, netteren Licht auf das eigene Ich anzufreunden. Es bedeutet, sich mit den Augen derer zu sehen, die uns lieben, mit all unseren Unebenheiten, Dellen und sogar unseren Schwangerschaftsstreifen, denn sie haben alle eine Geschichte. Unsere Geschichte. Da ist es sogar vorstellbar – ein verrückter Gedanke – dass wir uns selbst mit einem solchen Blick betrachten könnten. 

Wenn man sich der eigenen Schönheit stellt, ist man viel besser in der Lage, sie zu entfalten.  

Sich selbst zu verstehen, bedeutet vielleicht auch, dass man weiss, wieso diese Kilos, Augenringe oder Falten sich an einem festgesetzt haben. Vielleicht ist es auch die Einsicht, dass feines Essen uns Zugang zu einer ganzen Palette ästhetischer Freuden gibt, die unendlich reicher sind als dampfgegarte Rüebli, und dass man nicht darauf verzichten möchte, um einer Katalogschönheit zu ähneln. Die Einsicht, dass die Augenringe von Nächten erzählen, in denen man gestillt oder ein Buch in einem Rutsch gelesen oder Rauschzustände erlebt hat, die man absolut nicht bereut. Wenn wir uns mit unserem eigenen Bild anfreunden, kommt ein Teil unserer tieferen Identität zum Vorschein. Das ändert natürlich nichts an der Willkür von Urteilen über den Körper und dessen mehr oder weniger enge Übereinstimmung mit den ästhetischen Normen unserer Zeit. Doch es wird deutlich, dass die Schönheit vor allem eine Frage der Diversität und der Vereinbarung des Äusseren mit der Persönlichkeit ist. Nach und nach lernt man Selbstrespekt und Stil, man lernt, sich zur Geltung zu bringen, auf sich zu hören, sich zu bewegen, um sich dadurch zu entfalten. Vor allem wird klar, was einen Körper antreibt. Dass er nichts ist ohne die Worte, die ihn lebendig machen, die sich auf ihn und seine Umwelt beziehen. Fotos erzählen ganz wenig darüber, was einen Körper liebenswert und schön macht, nichts darüber, was wirklich wichtig ist. 

Unsere eigene Schönheit enthüllt sich nur einem liebenden Blick, in erster Linie dem eigenen, und dank dem geeigneten Licht.  

So stellt sich bei jungen Mädchen der richtige Geist ein und bekommen die Wangen ihre rosige Farbe. Der Herbst, die Jahreszeit des Dämmerlichts.

Nachdem ich mich auf Fotos lange Zeit hasste, habe ich gelernt, Bildern nicht zu trauen. Auf ihnen erstarrt die Welt zur Totenstadt. Auf Bildern sind wir fixiert und unbeweglich – was den bildenden Künsten zupasskommt, aber nicht unbedingt den Menschen. In einem Video konnte ich mich zufällig einmal selbst beobachten. So merkte ich, dass all meine Eigenschaften, mit denen ich haderte, durch die Bewegung und die Energie, die von meiner Art, mich zu bewegen, ausgeht, wie wegradiert waren. Ich entdeckte die fehlenden Bindestriche zwischen den einzelnen eingefrorenen Posen, die ich auf Fotos verabscheute. Vor allem fühlte ich mich von einer Stimme, einer Haltung, einem Tempo, einer Gestik angesprochen, viel mehr als von der vorhandenen oder nicht vorhandenen Übereinstimmung mit ästhetischen Normen. Ich habe mich aus einem ganz anderen Winkel gesehen, der meinem Empfinden viel näher kam. Näher an diesem grossen Ganzen der undefinierbaren Teile, die unser Dasein auf der Welt ausmachen. An alle, die sich selbst feindlich gegenüber- stehen und die eigene Schönheit nicht kennen: Macht das grässliche Neonlicht aus und zündet eine Kerze an. Wechselt die Stadt, das Parfüm oder den Liebhaber, bis ihr genau das Licht gefunden habt, in dem euer Strahlen zur Geltung kommt. Geht auf die Suche nach eurer eigenen Schönheit, die einzigartig ist und sich nicht auf strenge Normen reduzieren lässt. Genau in diesem Abstandnehmen findet sich alles Gold und alle Milde der Welt. 

 

Illustration: Anna Haas

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