Heilige Gemütsruhe
Unter einem sternenübersäten, samtweichen Himmel nippe ich am Abend meiner Ankunft in Siem Reap auf der neu gestalteten Dachterrasse des Amansara an meinem ersten von vielen Gin Tonic, während ich auf Astrid Killian warte, die charismatische Hotelmanagerin, deren Bekanntschaft ich vor einigen Jahren in Marrakesch machen durfte. Sie kann es kaum erwarten, mich mit Roland Fletcher bekannt zu machen, Professor für theoretische und Weltarchäologie an der Universität Sydney und Scholar-in-Residence, der regelmässig Vorträge für handverlesene Gäste Amans hält. Wie beinahe überall im Amansara ist die sogenannte Roof Terrace mit geschmackvoll platzierten Topfpflanzen entlang der Mauern ausgestattet und anderem Grün, das hier und dort zwischen den mit Kissen versehenen Sitzbereichen und Tischchen hervorblitzt. Zu den Klängen einheimischer Musik wird die Terrasse so zum perfekten Ort für den abendlichen Drink im Freien.
Einst königliches Gästehaus des legendären verstorbenen Königsvaters von Kambodscha, Sihanouk, ist das Amansara, zu Deutsch: himmlischer Frieden, ein gewollt stylishes, modernes Meisterwerk der New Khmer Architecture der 60er-Jahre. Nachdem es lange vernachlässigt worden war, hat das Gebäude durch eine sorgfältige und umsichtige Restaurierung wieder zu seinem alten Glanz als erste Adresse in Siem Reap zurückgefunden, wobei die ursprüngliche einstufige Anlage, der krummlinige Pool sowie der monochrome Minimalismus konsequent beibehalten wurden. Erfüllt vom einladenden Ambiente einer kultivierten Privatresidenz, schaffen die Gärten und das üppige Blätterdach ausgewachsener Bäume eine introspektive Atmosphäre, die sich auf die 24 Suiten überträgt, die allesamt über Innenhöfe mit kleinen Teichen verfügen, einige davon auch mit eigenen Pools.
Während ich darüber nachdenke, einen zweiten Gin Tonic mit dem hiesigen London Dry-style Seekers Gin zu bestellen, treffen Astrid und Professor Fletcher ein. Vor meinem ersten Besuch des Archäologischen Parks in Angkor am nächsten Morgen hätte ich mir keine bessere Einführung in die Zivilisation der Khmer wünschen können. Professor Fletchers Leidenschaft, sein Charisma und seine gewinnende Art sind höchst ansteckend. Er führt mich in Kambodschas Geografie ein im Zentrum Indochinas, das an Thailand im Westen, Laos im Norden, Vietnam im Osten und den Golf von Thailand im Süden angrenzt. "Kambodscha hat es geschafft, seine einzigartige Khmer-Identität zu bewahren, obwohl es relativ klein ist und grössere, dominante Nachbarn hat", sagt er. Und fügt hinzu: "Seine kulturellen Traditionen sind noch älter als die von Thailand, und im Gegensatz zu Vietnam, das stark von China beeinflusst ist, liegen Kambodschas kulturelle Wurzeln eindeutig im indischen Subkontinent."
Während wir uns zum Abendessen in Richtung des prachtvollen, kreisförmigen Speisesaals bewegen mit seiner erhabenen, sieben Meter hohen Decke, plaudern wir weiter angeregt. Das Restaurant, Herzstück des Amansara und Mittelpunkt des Anwesens, serviert Khmer-Küche mit ursprünglichen kambodschanischen Akzenten sowie westliche Gerichte, die Ersterer an Köstlichkeit in nichts nachstehen. Während wir erlesene Khmer-Delikatessen verspeisen, erzählt Professor Fletcher, dass die Ruinen von Angkor "von Wäldern und Reisfeldern umgeben sind und sich nördlich des Tonle Sap, südlich der Kulen-Anhöhe und nur Minuten vom Zentrum Siem Reaps erstrecken". Der Archäologische Park, der von der UNESCO als Weltkulturerbe anerkannt wurde, beherbergt über tausend Tempel, die letzten Überreste des prunkvollen Khmer-Imperiums, dessen Blütezeit vom 9. bis zum 13. Jahrhundert war. "Die Angkor-Periode nahm ihren Anfang im Jahr 802, als der hinduistische Khmer-Monarch Jayavarman II sich selbst zum 'universellen Monarchen' und 'Gottkönig' ausrief, und dauerte bis 1431, als die Invasoren aus Ayutthaya in die Hauptstadt des Khmer-Reiches einfielen und die Bevölkerung zur Flucht in den Süden zwangen, in Richtung des heutigen Phnom Penh", sagt er. In ihrer Blütezeit soll Angkor die grösste präindustrielle Stadt der Welt gewesen sein mit einem ausgeklügelten Agrarsystem, das bis zu einer Million Menschen ernähren konnte.
Voller Vorfreude kehre ich in meine Suite zurück, um mich in Anbetracht des frühen Weckrufs am kommenden Morgen zeitig hinzulegen. Ganz in Erdfarben gehalten mit kühlen, grauen Terrazzo-Fussböden, dunklem Holz und elfenbeinfarbenen Wänden, sind die Suiten aufgeteilt in kombinierte Schlaf- und Wohnbereiche in einem grosszügigen, mehrstöckigen und durchgehenden Gesamtsetting. Meine 80 Quadratmeter grosse Poolsuite bietet erholsame Abgeschiedenheit rund um den Pool sowie einen eigenen, durch Bäume abgeschirmten Innenhof. Ich könnte hier locker sofort langfristig einziehen.
Um Punkt 4.30 Uhr kündigt ein sanftes Klopfen an der Tür die Ankunft eines leichten Frühstücks an, bevor es Zeit wird, nach Angkor aufzubrechen. Im Amansara gehört zu jeder Suite ein eigenes auf Aman-Niveau ausgestattetes Tuk-Tuk mit Fahrer für Ausflüge in den weltberühmten Archäologischen Park von Angkor. Mein Reiseführer, Vater von drei Mädchen und Anfang 30, gibt mir eine aufschlussreiche Einführung dazu, was uns heute erwartet. Während wir durch die stockfinsteren Strassen von Siem Reap sausen, überholen wir andere Frühaufsteher. In einem dunkleren Teil der Hauptstrasse biegen wir scharf links auf einen Feldweg ein, und noch bevor ich fragen kann, kündigt mein Reiseführer an: "Auf Sie wartet eine besondere Überraschung, Sir."
Was dann passiert, ist überwältigend. Nachdem wir durch ein unprätentiöses Sicherheitstor gefahren sind, hält das Tuk-Tuk an, und wir gehen nur mit Taschenlampen ausgestattet zu Fuss weiter durch die Dunkelheit und den dichten Dschungel. Als die ersten Sonnenstrahlen zaghaft am Horizont erscheinen, bietet sich uns ein fantastischer Anblick: der eindrucksvolle Umriss eines überwältigenden Bauwerks – des Tempels von Angkor Wat. Es handelt sich hierbei um das wohl bekannteste und beständigste Symbol des antiken Khmer-Imperiums, das sich mit seinen unzähligen Türmen in den Himmel erhebt und an einen Tempelberg erinnert. Ursprünglich wurde es für König Suryavarman II im frühen 12. Jahrhundert erbaut als sein Staatstempel und als Hauptstadt, wurde dann jedoch zum Zentrum der Khmer-Hindu-Tradition für den Rest des Jahrhunderts. Als wir bei Sonnenaufgang durch den Tempel wandern, sind wir vollkommen allein, einer der Vorteile von Amans exklusivem Zutritt. Ich kann mir schwerlich eine aussergewöhnlichere Art vorstellen, dies zu erleben, als ich völlig allein in einer der eindrucksvollsten Kulturstätten der Welt bin, fernab der vielen Touristen und dabei, Erinnerungen zu kreieren, die mich mein ganzes Leben lang begleiten werden.
Um diesen Grad an Privatsphäre zu garantieren, werden Besuche (sehr) früh am Morgen und nachmittags angesetzt. Wir kehren ins Hotel zurück, als Siem Reap vollends erwacht ist und die belebten Strassen zu den Klängen von Autos, Tuk-Tuks und chinesischen Reisebussen summen. Als ich mich in der friedvollen Oase der Gärten des Amansara wiederfinde, entscheide ich mich für einen Besuch im Spa, das über den an einem reflektierenden Pool vorbeiführenden Weg zu erreichen ist. Der Empfangsbereich wird von einer Lounge und einem Patio-Garten flankiert, der einen eindrucksvollen, uralten Regenbaum beheimatet. Es gibt nur vier Behandlungsräume, wodurch sichergestellt ist, dass das Spa exklusiv und ruhig bleibt.
Nach dem Mittagessen und einem kurzen Nickerchen auf meinem Patio ist es Zeit für einen zweiten Tempelbesuch, dieses Mal zu Ta Prohm. Dieser Tempel wurde 2000 weltberühmt, als der Hollywood-Blockbuster "Tomb Raider" dort gedreht wurde. Noch heute ist er für viele nur der "Tomb Raider"-Tempel. Der Film mit Angelina Jolie war grösstenteils für den Tourismusboom in Siem Reap und Kambodscha insgesamt verantwortlich. Ta Prohm wurde vor 800 Jahren fertiggestellt und später dem Dschungel überlassen wie so viele andere Gebäude, bis in der Neuzeit dort die Wurzeln von riesigen Baumwoll- und Würgefeigenbäumen entdeckt wurden, die sich um den Stein gewickelt hatten wie ineinander verknotete Schlangen. Inmitten von rechtwinkligen Mauern, die von 39 Türmen umgeben sind, befindet sich eine heilige Stätte, oder Vihara, mit einer Inschrift auf einer aufrecht stehenden Pflasterplatte, die besagt, dass 12 500 Bewohner diesem Tempel gedient haben, unter ihnen acht Hohepriester und über 600 Tänzerinnen sowie 80 000 weitere Personen in der näheren Umgebung.
Am selben Abend nach einem weiteren üppigen Khmer-Dinner, das im Patio meiner Suite inmitten eines Meers aus Kerzen serviert wird, begebe ich mich wieder früh zu Bett, denn am nächsten Tag haben wir noch einiges vor. Wir besuchen den Tempel von Preah Khan, eine weitere, eindrucksvoll grosse, klösterliche Anlage. Danach gibt es ein Frühstück in Amans Khmer-Dorf Haus. Das traditionelle, aus Holz erbaute Haus inmitten des Archäologischen Parks steht auf Pfählen und bietet einen Ausblick auf das royale Schwimmbad von Srah Srang aus dem 10. Jahrhundert. Danach begeben wir uns ins Preah-Khan-Reservoir, wo ich zu einem kleinen Boot geführt werde, das uns übers friedliche Wasser dieses von Menschenhand geschaffenen Wasserreservoirs zu einem anderen Tempel bringt, einem ehemaligen "Spital". Dabei geniessen wir ein wunderbares Picknick, das serviert wird, während wir durch die atemberaubend schöne Landschaft treiben. Als wir den Tempelausgang erreicht haben, erwartet mich schon mein rühriger Tuk-Tuk-Fahrer mit den traditionellen frischen Handtüchern, und als wir zurückfahren, entscheidet mein Reiseführer, ich könnte unmöglich Angkor verlassen, ohne den reich verzierten Tempel von Bayon zu sehen mit seinen zahllosen lachenden Steingesichtern, die in unzählige Türme gemeisselt sind. Als wir ankommen, ist die Besuchszeit schon vorbei, doch wir schleichen uns durch den Hintereingang hinein, und einmal mehr staune ich über die beeindruckenden Ruinen, die ich vollkommen allein bewundern darf.
So verlockend es auch ist, meinen letzten Tag im traumhaften Kokon Amansara zu verbringen, so unentschuldbar wäre es doch gewesen, die vielen Sinnesfreuden zu verpassen, die Siem Reap zu bieten hat. Ich folge dem hoteleigenen Stadtplan, und so tuckern mein Fahrer und ich durch die Strassen Siem Reaps, halten an den auf der Karte empfohlenen Orten an und entdecken selbst noch ein paar andere interessante Sehenswürdigkeiten. Siem Reap ist im Vergleich zu anderen kambodschanischen Städten ein beschaulicher Ort, der durch seine Restaurants, Läden und kleinen Geschäfte besticht. Nach Sonnenuntergang kehre ich vor dem bereits gewohnten Dinner im Speisesaal zu einem letzten Gin Tonic zur Roof Terrace zurück.
Als mich am nächsten Morgen der einst König Sihanouk gehörende Vintage-Stretch-Mercedes erwartet, um mich zum Flughafen zu bringen, erinnere ich mich an das allererste Mal, als ich von diesem faszinierenden und magischen Teil der Welt gehört habe. Ich war 14 Jahre alt, als ich auf eine Ausgabe des "National Geographic"-Magazins stiess, die mich nun über ein Vierteljahrhundert begleitet hat. Auf dem Cover war das Foto einer von Dschungel eingesäumten Tempelruine zu sehen, die gegen tiefe Baumwurzeln und andere gierige Vegetation zu kämpfen schien. Es stellte Ta Prohm dar. So habe ich als Teenager zum ersten Mal Angkor Wat entdeckt und Siem Reap stand seitdem ganz oben auf meiner Bucket List. Ich weiss nicht genau, warum es so lange gebraucht hat, bevor ich mich endlich auf diese wichtige Reise begeben habe. Jetzt, da ich dies jedoch getan habe, sind mir zwei Dinge bewusst geworden: Erstens waren die Tempelbesuche genau so, wie ich sie mir während beinahe 25 Jahren vorgestellt habe, und zweitens habe ich endlich mein "Lieblingshotel" gefunden. Danach wird man als Travel Editor beinahe wöchentlich gefragt – eine Frage, die ich bislang nie zufriedenstellend beantworten konnte. Dieser erhabene Zufluchtsort in Siem Reap hat dies nun geändert, und ich ahne, dass das Amansara auch die nächsten 25 Jahre mein Lieblingshotel bleiben wird, oder vielleicht noch länger... Wer weiss? Ich bin eben so ein loyaler Typ.