Yotam Ottolenghi
Es ist schon paradox: Jamie Oliver kann auf 6,6 Millionen Instagram-Follower stolz sein, Gordon Ramsey auf 4,9 und Nigella Lawson auf 1,3 Millionen. Doch der am meisten zitierte, hofierte und gefeierte Starkoch unserer Epoche, der den kulinarischen Zeitgeist verblüffend genau erfasst, hat gerade einmal 639 000. Andererseits verbucht Yotam Ottolenghi über drei Millionen verkaufte Bücher, die in Grossbritannien wie in Paris (nahöstliche) Würze in die Gastroszene gebracht haben. Dort spriessen inzwischen Restaurants mit zwanglosem Ambiente und orientalischen Aromen nur so aus dem Boden – man denke da an das Balagan oder das Salatim.
Das von Ottolenghi ausgelöste Erdbeben scheint zwei Epizentren zu haben (und die Seismologen mögen uns da verzeihen): einerseits ein zielstrebiger Lebensweg, andererseits ein kulinarischer Ansatz, der überall gut ankommt – bei den gastronomisch Interessierten mit Schwäche für «world food», die ihren Insta-Blog gern mit Bildern von farbenfrohen Gerichten aufpeppen, ebenso wie bei der Hausfrau, die sich den Abend für «The Great British Bake-off» reserviert. Auf der einen Seite also beneidenswert gut besuchte Restaurants und auf der anderen Seite Bücher, bei deren Verkaufszahlen die Konkurrenz blass wird.
Schauen wir zurück auf einen inzwischen fünfzigjährigen Lebensweg. Nachdem Ottolenghi in Israel seinen Dienst bei der militärischen Aufklärung geleistet hat (eine seiner Grossmütter war mit der Mossad sogar an der Verhaftung von Eichmann beteiligt), studiert der gebürtige Jerusalemer mit deutsch-italienischen Eltern in Tel Aviv vergleichende Literaturwissenschaft, bevor er für die Tageszeitung «Haaretz» schreibt. 1997 geht er nach London, um sein Studium fortzusetzen. Er belegt ein Semester lang Kurse an der Kochakademie Le Cordon Bleu und wird Patissier. Daneben schreibt er in Amsterdam seine Abschlussarbeit über die ontologische Wirkung der Fotografie in der Philosophie der Ästhetik. Seine ersten beruflichen Schritte in einem Sternerestaurant, dessen Namen er verschweigt, klingen nicht eben ermutigend. So erzählt er der «New York Times» am 27. April 2011: «Die Küche ist eine der letzten Bastionen der zivilisierten Kultur, die zum Ziel hat, den Geist zu brechen.» Unversehens tritt er eine Stelle als Patissier an, die den Grundstein seiner Karriere bilden sollte. In der Bäckerei Baker & Spice begegnet er 1999 seinem zukünftigen Geschäftspartner Sami Tamimi, mit dem er 2002 seinen ersten Deli eröffnet.
Ein politisches, gesellschaftliches und kulinarisches Ideal
Wohl ohne es darauf anzulegen, verkörpert Yotam dreierlei Ideale. Zum einen im politischen Sinn, weil Sami Tamimi, sein Geschäftspartner und Co-Autor von «Jerusalem», israelischer Araber ist. Zum anderen gesellschaftlich, als schwuler, verheirateter Mann und Vater zweier Kinder. Und drittens gastronomisch, indem er jahrhundertealte Einflüsse aus dem Orient, Europa und dem Mittelmeer miteinander verschmilzt.
Er hat in der angelsächsischen Küche nicht so sehr die alten Verhältnisse umgekrempelt, die hauptsächlich von der traditionellen Kultur der Pub-Restaurants und europäischen Gepflogenheiten bestimmt sind, vielmehr hat er die Befindlichkeit der heutigen Zeit eingefangen: kosmopolitisch, reisefreudig, vernetzt. 2014 schrieb der «London Evening Standard», Ottolenghi habe «die Art und Weise revolutioniert, wie die Londoner kochen und essen». Die besteht im grosszügigen Einsatz exotischer Gewürze, einer volksnahen Rückbesinnung auf Essiggurken und variierten Kochtechniken für Gemüse (lang im Ofen gegart, kurz über dem Gaskocher geröstet oder scharf angebraten). Tierische Produkte spielen nur eine nebensächliche Rolle. Die vier Richtungen auf Ottolenghis Kompass beziehen immer mehr auch die kulinarischen Bezugspunkte der englischen Haushalte mit ein.
So sieht es auch Marina O’Loughlin, eine der Star-Autorinnen der britischen Gastronomiekritik, die für den «Guardian» und die «Times» schreibt: «Er wird geliebt und respektiert, einerseits, weil er ein netter Typ ist, und andererseits, weil er wie kaum ein anderer Küchenchef wirklich anregend und inspirierend ist.» Angesichts der Schwierigkeiten, denen Jamie Oliver gegenübersteht, nun, da sein eindrucksvolles Imperium ins Wanken geraten ist, kann es als Wunder gewertet werden, dass Ottolenghi seinen Triumphmarsch vom ersten Restaurant bis zum neu eröffneten Rovi praktisch ungehindert fortsetzen konnte. «Wenn ihm Rückschläge erspart blieben, dann deshalb, weil er das, was er tut, wirklich gut kann und sich nicht zu grossen Absichtserklärungen hinreissen lässt.» Damit benennt die Journalistin indirekt einige der Fallstricke, die so manchem Konkurrenten in der Londoner Szene zum Verhängnis wurden. Seine Restaurants – angesiedelt zwischen zwangloser Kantine, Bäckerei und Catering –, die Kolumnen im «Guardian» und der «Times» und seine jeweils kurz vor Jahresende erscheinenden Bücher erwecken den Eindruck, dass es bei dem Unternehmer Ottolenghi längst nicht mehr nur um das Restaurantgewerbe geht. Er betätigt sich zum Beispiel auch als hipper Lebensmittelhändler. Auf seiner Website sind Rosenwasser, schwarzer Quinoa, Datteln, Gewürze und mehr erhältlich. Für den Fall, dass der Erfolg seiner Küche jemals nachlassen sollte, hat er sich bereits mit einem Diplom als Pilates-Lehrer für eine zweite Karriere gerüstet. In einem Interview mit der «Financial Times» vom 7. September 2017 verriet er, dass er seine tägliche Arbeit am Herd zugunsten seines Familienlebens hintangestellt habe. In seinen Worten: «Ich bin nicht so instinktiv, wie es andere Küchenchefs vielleicht sind. Ich mache mir viele Gedanken, bevor ich mich an ein Rezept. Ich versuche auch, Projekte mit einem sozialen oder historischen Bezug umzusetzen, die über die reine Ernährung hinausgehen.»
Neue Ideenwelten
Das breite Publikum findet hier sicher Themen widergespiegelt, die es beschäftigen. Der momentane Trend in der modernen Gastronomie macht ja glauben, es handle sich dabei um einen ganz eigenen Teil der Popkultur, einen Eckpfeiler des Alltags. «Er legt absolut keinen Wert darauf, ein publikumswirksamer Prominenter zu sein. Aber er ist unglaublich populär», sagt Marina O’Loughlin. «Das sieht man an den Schlangen vor den Bücherläden, wenn er seine Werke signiert.» Indem er pflanzliche Kost und Gewürze in den Vordergrund rückt, bleibt er seinem Ehrgeiz treu (momentan gibt es einen Witz über einen Ehemann, der einkaufen geht: «Liebling, ich kaufe Kleenex, Wasser und Zaatar!» – eine Anspielung auf die vielfältigen Zutaten, die in seinen Rezepten verwendet werden). «Jeder Bissen soll ein dramatisches Erlebnis sein, ich möchte eine Geschmacksexplosion!»
Genau diese Fähigkeit, neue Ideen umzusetzen, sei das, was ihn besonders macht, so O’Loughlin. «Der einzige Vorwurf, der ihm gemacht wird, bezieht sich auf die Zutaten für seine Rezepte. Doch ihm ist zu verdanken, dass man heute Granatapfelmelasse, Freekeh oder Dukkah im Supermarkt findet. Und er hat auf die Kritik reagiert, denn sein neues Kochbuch trägt den Namen ‹Simple›.»
Zu seinen Grosstaten gehört ein Bestseller der vegetarischen Küche («Plenty», 2010), obwohl er sich selbst nicht sklavisch daran hält. «Ich lasse mich nicht von Regeln einschränken. Ich denke nicht in ideologischen Begriffen.» Die Redaktion einer Vegetarierzeitschrift führte lange Debatten darüber, ob ein Koch, der selbst Fleisch isst, aber vegetarische Rezepte veröffentlicht, mit Fug und Recht bei ihnen abgedruckt werden könne. Man hat da Diskussionen à la Monty Python vor dem geistigen Auge, die am Ende zu seinen Gunsten ausgingen. Damit beweist er, dass er sein (positives) Wort zu Gehör bringen kann – und wie loyal seine ehemaligen Mitstreiter sind: «Mit wem man es bei diesem Mann zu tun hat, ist daran zu erkennen, in welchem Mass sich seine ehemaligen Köche seine Ratschläge zu Herzen nehmen, wenn sie ihre eigenen Restaurants eröffnen», betont O’Loughlin.
Das betrifft sicher das Scully und das Honey & Co, die zweifellos von der Aura ihres ehemaligen Chefs profitieren. Die Eröffnung des brandneuen Rovi wurde vor Kurzem eher voll wohlwollender Ungeduld erwartet denn mit der falschen Freude, mit der die Unternehmungen der Glücklichen dieser Welt sonst gierig beäugt werden. Jay Rayner, eine spitze Feder des «Guardian» (die unberechtigte Kritik am ausgezeichneten Restaurant Le Cinq, die in Pariser Fachkreisen die Gemüter zum Kochen brachte, war von ihm), berichtete in einer Rezension am 30. September voll Begeisterung von seiner Erfahrung. Mit der erhellenden Formulierung «Er ist sein eigener Trend», fängt er die Essenz Ottolenghis treffend ein, diese scheinbar angeborene Fähigkeit (tatsächlich ist sie nämlich durchdacht und reflektiert), sich den Geist der Zeit zu eigen zu machen, als würde er in einen Massanzug schlüpfen. Sechs Kochbücher, siebzehn Preise (für die erwähnten Bücher, seine TV-Sendungen und seine Restaurants), sechs Restaurants: Der Erfolg misst sich nicht immer an der Zahl der Social-Media-Follower. Selbst im Digitalzeitalter und angesichts der Launen des Internets ist es nach wie vor keine überflüssige Sache, seinen Visionen von der Welt eine konkrete, lebendige Gestalt zu geben. Aus diesem beispielhaften Erfolg könnte man sogar so etwas wie eine Moral herauslesen: die von der Freude an der Arbeit.
ottolenghi.co.uk
Image Credits:
DAVID LOFTUS
ISSY CROKER
ADAM LUSZNIAK