Bald leeren sich die Büros und alle Städter suchen sich am Feriendomizil einen Platz unter dem Sonnenschirm. Es ist die Zeit der Ruhe und des Reisens. Doch wann ist man wirklich in den Ferien? Und was ist das überhaupt, Ferien? Valérie Fromont begibt sich auf die Suche nach dem Augenblick, in dem die Ferien zur Entdeckung einer wunderbaren Welt führen: des eigenen Ich. 


Da sind Sie nun &ndash; h&ouml;chstwahrscheinlich ausgepumpt und v&ouml;llig ger&auml;dert &ndash; zu Anfang des Sommers und bereit, die Vitamin-D-Reserven f&uuml;r die n&auml;chsten f&uuml;nf Jahre aufzuf&uuml;llen. Mit etwas Gl&uuml;ck haben Sie eine herrliche Flucht aus dem Alltag vor sich und eine Reise in Aussicht, auf die Sie sich wahnsinnig freuen. Vielleicht ist es ein Besuch bei Ihrer Familie, wo all Ihre Bezugspunkte, Ihre Erinnerungen und Ihre Lieben sind. Oder ein Stopp in einer &laquo;masseria&raquo; in Apulien, um sich mit Unmengen von der Nonna gekochter Lasagne vom Stress des Jahres zu erholen. Ein Spa in Bali, Trekking in Patagonien, eine Meditation am Fuji, ein weisses, mit Bougainvilleen &uuml;berwuchertes Haus in Griechenland, ein Chalet im Engadin. Vielleicht haben Sie diese Reise schon vor einem halben Jahr haarklein geplant, vielleicht m&ouml;gen Sie die Aufregung und den Luxus, sich im letzten Moment f&uuml;r ein Ziel zu entscheiden. Auf dem Papier sehen die Ferien so simpel und sch&ouml;n aus wie ein Kuoni-Katalog, den man am Ende eines tr&uuml;ben Winters durchbl&auml;ttert. Im wahren Leben ist es zugleich weit schlimmer und viel besser, ein Kopfsprung in tr&uuml;bes Wasser, die Entdeckung des gr&ouml;ssten und faszinierendsten Kontinents: des eigenen Ich.

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Ich erinnere mich an die ersten Ferien meines Lebens. Ein Citro&euml;n 2CV, zwei Kinder, ein Hund und ebenso viele bis zum Platzen gef&uuml;llte Koffer auf dem Autodach. Ich erz&auml;hle aus Zeiten, die unseren j&uuml;ngeren Leserinnen wohl unbekannt sind: vor den Billigfliegern und Airbnb, sogar noch vor dem Internet. Doch, so war das. Alle fuhren so schnell wie m&ouml;glich in den S&uuml;den, Fran&ccedil;oise Sagan im Sinn und Georges Brassens und Phil Collins im Ohr. Die Achtziger waren auf ihrem H&ouml;hepunkt. Und wirklich faszinierend fand ich nicht so sehr das andere Land, die andere Sprache oder das Meer, sondern diese ganz spezielle Atmosph&auml;re bei der Abreise: um drei Uhr morgens aufstehen, eine heisse Schockolade trinken, wenn wir sonst noch geschlafen h&auml;tten. Aufregung im Haus zu sp&uuml;ren anstatt der &uuml;blichen lustlosen, bedr&uuml;ckenden Stille. Es musste schnell gehen, um vor den heissesten Stunden des Tages m&ouml;glichst weit zu fahren (die Autos hatten damals nat&uuml;rlich auch keine Klimaanlage). Diese freudige Erregung, dieses Loch im grossen Mantel der Dunkelheit &ndash; wie es sp&auml;ter die Partys, Clubs und das Nachtleben sein w&uuml;rden &ndash; war eine wunderbares Vorgef&uuml;hl und ganz sicher eine enorme Erleichterung: das Gef&uuml;hl, dass manchmal schon eine Kleinigkeit die Kruste der Gewohnheiten sprengt, aus denen unsere Tage und N&auml;chte scheinbar bestehen und die unsere ganze Art zu leben und zu denken vereinnahmen. Manchmal gen&uuml;gt ein kleiner Funke in der Nacht, dann liegt endlich das Leben vor einem. So fuhren wir in den S&uuml;den, lauthals singend und insgeheim hoffend, dass dort alles anders sein w&uuml;rde. Ich w&uuml;rde viel daf&uuml;r geben, dieses Gef&uuml;hl immer wieder neu zu erleben.

Abenteuer im fremden Land.

Ich erinnere mich an einen anderen Augenblick meines Lebens, als dieses Gef&uuml;hl so intensiv war wie nie zuvor: Ich war 17 und gerade in Tokio gelandet. Ich war Model und meine Agentur hatte mich an einem Freitagabend in mein Apartment gebracht mit der Mitteilung: &laquo;Wir holen dich am Montagmorgen um 9 Uhr ab.&raquo; Damals (Gruss an alle Teenies!) konnte man noch nicht auf Handys z&auml;hlen, und auf Google Maps schon gar nicht. Trotzdem konnte man sich auf das uralte Wissen aus dem M&auml;rchen st&uuml;tzen. Lost in Translation ging ich nach draussen und markierte mit Pfeilen auf Papier meinen Weg bis zum ersten Supermarkt und der ersten Telefonzelle, die ich unterwegs fand. Allein auf der Strasse am anderen Ende der Welt, ausser Reichweite meiner Familie, meiner Clique und von allem, was ich kannte (welche von diesen neonfarbenen Gelees im Supermarkt sind eigentlich essbar?). Ich glaube &ndash; nein, ich weiss &ndash; dass ich mich nie st&auml;rker gef&uuml;hlt habe. Niemals war mir die F&uuml;lle meines Einfallsreichtums, der Quelle meines Selbstvertrauens und vor allem meines Muts derart bewusst. Und wie gut ich mich durchschlagen konnte. Mutterseelenallein, nichts und niemand in meiner N&auml;he, und doch war ich perfekt f&uuml;r das &Uuml;berleben ger&uuml;stet. Ich lernte, mich den Leuten auf der Strasse mit Gesten verst&auml;ndlich zu machen, &laquo;Frosties&raquo; auf Japanisch zu entziffern, meinen Weg zu buddhistischen Tempeln und zum Fischmarkt zu finden, die Verhaltensregeln in der U-Bahn zu verstehen, Freunde zu finden und auf der Hut zu sein. Gross zu werden.

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Photo Credits:&nbsp;ZVG

Ich, als Model mit 17 Jahren alt.

Aber Moment... Ich mache es mir leicht, wenn ich von meinen ruhmreichen Sommerreisen erz&auml;hle. Gute Erinnerungen an die Ferien hat jeder. Und schlechte, seien wir ehrlich, sogar noch mehr. Denn an miesen Ferienmomenten habe ich eine so endlose Sammlung, dass sie leicht einen Souvenirladen am Strand der Costa Brava f&uuml;llen k&ouml;nnten. Ich erinnere mich daran. Sogar sehr gut. Tr&auml;nen im Flugzeug, weil ich nicht begriffen hatte, dass Ferien mit kleinen Kindern nie mehr echte Ferien sein w&uuml;rden. Manche H&auml;user waren zu scheusslich, um sich dort echt wohl zu f&uuml;hlen, es gab M&auml;nner, bei denen mir klar wurde, dass ich sie nicht mehr liebte, klaustrophobische Kabinen auf Segelbooten, Familiendramen, lautstarken Krach unter Freunden, Panikattacken in der Sahara, Urlaube mit Spitalaufenthalt. Oder einfach Augenblicke, in denen man sich wieder auf die Arbeit freut, wo man an den Stapel Post denkt, der einen erwartet, an die Ger&auml;usche, Farben und Gegenst&auml;nde im eigenen Zuhause, die schweigend und liebevoll diese unsichtbare, sinnliche Basis bilden, auf der unsere Gewohnheiten beruhen.

Ich habe von den guten Erfahrungen genauso viel gelernt wie von den schlechten. Da ist nichts zu machen, nichts, das man vermeiden k&ouml;nnte, nichts, das an einen Kuoni-Katalog erinnert oder an die starren Erwartungen, die man oft an die Ferien hat. Immer gibt es ein gewisses Mass an Unannehmlichkeiten (Ich kann mir kaum das Lachen verbeissen, wenn ich an eine Freundin denke, die das Gl&uuml;ck hatte, an einen der exklusivsten, luxuri&ouml;sesten Orte der Welt zu fahren und die dann vom Schrecken am n&auml;chsten Morgen berichtete, als Wildschweine um ihr Haus streiften). Ferien sind wie ein Inkubator: Nichts wird neu erfunden, aber alles verst&auml;rkt, sie f&uuml;hren zur Erkenntnis und manchmal zur Explosion. Auf einmal ist da ein Drang. Zun&auml;chst der Drang zum Ausruhen &ndash; der K&ouml;rper braucht oft mehrere Tage, bis er sich entspannt, und nicht selten wird man dann so krank, dass tagelange Bettruhe f&auml;llig ist. Der Drang, einen Mann zu verlassen, einen Job oder einen Lebensstil aufzugeben, der nicht mehr zu einem passt. Der Punkt des Loslassens in den Ferien kommt einem Rauschmoment gleich, in dem sich alles, was wir schon genau kennen, mit der Klarheit der ersten Liebe enth&uuml;llt. Ferien bieten die grosse Chance auf eine neue Beziehung zur Zeit, zum Raum und zu den anderen, und vor allem erlauben sie uns, in unserem tiefsten Inneren etwas zu &ouml;ffnen. Diese Songzeilen von Leonard Cohen klingen ewig in mir nach:

«Ring the bells that still can ring Forget your perfect offering There is a crack in everything That’s how the light gets in»

Ob sie nun ein Erfolg oder ein Fiasko sind; der interessanteste Augenblick in den Ferien ist, wenn der Bruch eintritt. Wenn es klick macht und sich uns ein neuer Blickwinkel er&ouml;ffnet, auf Intimes, Soziales, &Auml;sthetisches, Politisches oder was auch immer. Dieser Augenblick, wenn man versteht, dass man einfach um 3 Uhr morgens eine heisse Schoggi trinken k&ouml;nnte, wenn das Herz danach verlangt. Dass man Forscherin, Krankenschwester oder Schriftstellerin werden, Althochdeutsch lernen oder ein Wildblumen-Herbarium zusammenstellen k&ouml;nnte. Ein neuer, hoffentlich dauerhafter Blick, der weit &uuml;ber das verg&auml;ngliche &ndash; hoffentlich wunderbare &ndash; Intermezzo dieser angehaltenen Zeit hinaus lebendig bleibt. Daf&uuml;r muss man nicht einmal wegfahren. Ich habe schon Ferien daheim verbracht, in denen ich mir f&uuml;r jeden Tag eine neue Unternehmung in meiner Stadt vorgenommen habe. Das erfrischende Gef&uuml;hl ist garantiert.

Lassen Sie mich vor der Weiterreise von meinem letzten einsamen Moment in den Ferien erz&auml;hlen. Es war im Fr&uuml;hling auf der Autobahn, die mich wieder einmal Richtung S&uuml;den f&uuml;hrte. Die obligatorische Lunchpause f&uuml;r die Kinder an einer Autobahnrastst&auml;tte, die allen Rastst&auml;tten der Welt gleicht, und das ist vielleicht eine der deprimierendsten Tatsachen der Welt. Ich war im Geiste bereits Audrey Hepburn auf Capri und sass mitten in einem Raum, wo auf dem endlos tristen Bodenbelag &uuml;brig gelassene, fettige Pommes Frites lagen. Die Tische klebten vor Ketchup und die Horde Menschen um mich herum wirkte wie auf dem Weg zur Schlachtbank. Ich versuchte, meine W&uuml;rde (und Laune) inmitten dieser supermodernen, aber trostlosen Umgebung zu bewahren, als ich pl&ouml;tzlich Lust bekam, mir die Wirklichkeit anders zu denken. Ich war nicht mehr auf einer stinknormalen Rastst&auml;tte, sondern auf einem dieser genialen Fotos von Martin Parr, die so bissig wie liebevoll sind. Die echten Ferien fangen vielleicht auf einer Rastst&auml;tte an. Manchmal gen&uuml;gt ein neuer Blick auf die Dinge, damit die Welt pl&ouml;tzlich liebenswerter wird. Ich w&uuml;nsche g&uuml;nstigen Wind und gute Fahrt!

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Photo Credits:&nbsp;ZVG

The big escape

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